Prolog - Björn Tag 1

Hallo Rene, gestern bin ich meinen persönlichen Hansegravel gestartet. Da ich die Daheimgebliebenen von unterwegs immer ein wenig mit meinen Erlebnissen unterhalte oder belästige, je nachdem wie man es sieht, schicke ich dir mal meinen Prolog und den ersten Tagesbericht. Vielleicht für dich ja auch ganz interessant. Gestern bin ich den ersten Abschnitt gefahren. Ihr habt da eine traumhafte Route zusammengestellt. Ganz vielen, vielen Dank für die Mühe.

Liebe Grüße von unterwegs, Björn


HANSE GRAVEL & VELO BERLIN
PROLOG
Moin Ihr Landratten, morgen Mittag startet ab Hamburg mein persönlicher "Hanse Gravel" 🚲⛺
"Hanse...was?" fragst du dich. Zur Erklärung: "Hanse" steht für den "Hanseatenweg" - ein die Hansestätte Hamburg, Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, Wolgast, Anklam und Stettin verbindender Rad- und Wanderweg. Eine stilisierte Kogge dient dabei als Symbol dieses Wander- bzw. Radweges.
Und "Gravel" ist neudeutsch für Schotter. Denn es geht dabei über weite Strecken auf naturbelassenen Pfaden mit entsprechend hohem Schotter/ Kies/ Sandanteil.
Die schöne Wortschöpfung "Hanse Gravel" entstammt übrigens nicht meiner verwirrten Gedankenwelt, sondern der Hanse Gravel ist eine eigentlich erst kommenden Donnerstag startende "Bikepacking-Abenteuer-Selbstversorgerfahrt".
Ein das Radabenteuer suchendes Fahrerfeld von gut 180 Mann bzw. konkreter ca. 160 Herren und 20 Damen hat sich vorgenommen, die ca. 625 km lange und 2500 Hm umfassende Strecke bis Stettin im "Rennmodus" unter die Pedale zu nehmen. Zwar kein Rennen im klassischen Sinn, aber was das Tempo anbelangt, wohl schon rennorientiert. Will heißen: möglichst leichtes Rad, wenig Gepäck, wenig schlafen, selten Pausen, quasi "Radeln, bis einer heult." Ich vermute, dass die ersten nach weniger als 48 h in Stettin ankommen werden.
Das erklärt dann auch, warum ich nicht offiziell teilnehme. Weder ich noch mein Rad sind leicht. Und ich habe nicht nur einen Schlafsack für die Bank am Wegesrand dabei, sondern gleich ein ganzes Zelt und schlafe in der Regel mehr als eine Stunde am Stück. Und tagsüber mache ich häufig und gerne Pausen und nehme meine Nahrung nicht auf dem Rad, sondern im Lokal sitzend ein. Sogar einen Gaskocher habe ich erstmals dabei, um mir morgens beim Tagestext lesend einen anständigen Kaffee gönnen zu können. Und überhaupt: konditionell bin ich nicht annähernd in der Lage, so lange mit hohem Tempo fahren zu können. Die meisten Teilnehmer werden samt Rad, Gepäck und Verpflegung weniger wiegen als ich ohne Rad und nackt. Und das bei gleichzeitig weniger Muskelmasse.
Daher habe ich mich entschieden, einfach mal ein paar Tage früher zu starten. Nicht im "Renn- sondern Spaßmodus". Was nicht ausschließen wird, ebenfalls an ganz persönliche Grenzen zu stoßen und hier und da mal ein wenig zu heulen. In Zahlen ausgedrückt: wenn ich es in weniger als 120 h bis Stettin schaffe, bin ich zufrieden. Und während ich dem Verlauf alter Handelsrouten folge, habe ich so auch viel mehr Zeit, um über europäische Völkerverständigung im Allgemeinen und die Bedeutung der Hanse im Besonderen nachdenken zu können 🤭🤪
Mein persönlicher Hanse Gravel wird übrigens nicht in Stettin enden, sondern so wie wahrscheinlich auch für die meisten - wenn nicht alle "richtigen" Teilnehmer des offiziellen Hanse Gravel - geht es ca. 170 km weiter bis in die deutsche Hauptstadt hinunter. Dort findet kommendes Wochenende die VELO Berlin statt - eine Fahrradmesse auf dem Gelände des ehemaligen Flughafen Tempelhof. Wenn es körperlich, emotional und zeitlich möglich ist, gerne wieder aus eigener Kraft mit dem Rad, alternativ eben mit dem Zug. Denn spätestens Freitag Abend möchte ich so oder so Berlin erreicht haben, um am Samstag über die VELO Berlin schlendern und zwei- bis drei neue Räder zu kaufen zu können 🤣
Die Fahrradmesse war auch der eigentliche Rechtfertigungsgrund gegenüber der besten Ehefrau von allen, überhaupt mit dem Rad nach Berlin zu fahren. Denn wer mit selbigem auf das Tempelhof Gelände einrollt, bekommt das Tagesticket für 7 € statt 9 €. Und Sparen ist ja auch im Interesse meiner Frau. Später habe ich zwar gesehen, dass ich das Ticket auch online zum Sparpreis von 7 € hätte erwerben können. Aber mal ehrlich: mit dem Auto nach Berlin? Wo wäre da der Spaß? Und ohnehin befürchte ich, dass meine Frau mich durchschaut hat, dass mal wieder der Weg das Ziel ist.
Soweit zur Einführung. Je nachdem, wie ich es schaffe und in der Lage bin, sende ich möglichst tägliche Updates. Vielleicht auch das ein oder andere Handyfoto, doch wie ihr wisst, knipse ich bis dato (noch) lieber mit der kleinen Kompakten und bin zu faul, die Bilder schon unterwegs alle aufs Handy zu schaufeln und zu sichten.
Wie immer freue ich mich über Zuspruch und auch Kritik. Ist aber kein Muss. Nur konsumieren geht natürlich auch. Nur noch mal zur Erklärung: auch wenn mein Bericht an mehrere Leute geht, kann nur ich lesen, was du mir schreibst.
... 
Tag 1.
Heute morgen ist die beste Ehefrau von allen ungewöhnlich gut gelaunt. Man könnte fast meinen, sie ist aufgekratzt. Ob es damit zu tun hat, dass ich ein paar Tage weg fahre? Auf Nachfrage druckst sie verschmitzt lächelnd ein wenig herum. Natürlich gönne ich ihr sehr gerne die paar freien Tage. Überhaupt ist das ja quasi der Hauptgrund, warum ich fahre: die Erholung meiner Frau 😌 Es wird schon seinen Grund haben, dass sie mich von Zeit zu Zeit "die Peitsche" nennt. Und so wird hoffentlich jeder auf seine Weise die Zeit genießen können.
Mein Zug bis Hamburg startet nach dem Frühstück um 10:23 Uhr. Bei dem Wetter bin ich nicht der einzige Radler im Zug. Ich döse vor mich hin und (be)lausche meine Mitreisenden. So ein Zugabteil kann ein kleiner Mikrokosmos unserer Gesellschaft sein. Da sitzen gut situierte Rentner mit Jack Wolfskin Jacke und Marken E-Bike neben den sozial abgehängten unserer Gesellschaft. Nicht uninteressant. 
Bei strahlendem Sonnenschein steige ich um viertel nach zwölf in Hamburg aus. Dafür, dass es vor genau einer Woche auf dem Kongress in Trappenkamp geschneit hat und lausig kalt war, kann ich seeeehr zufrieden sein.
Anfangs geht es an der Alster entlang. Bei dem Wetter und gleichzeitig Osterwochenende natürlich mit dementsprechend viel Rad- und Fußgängerverkehr. Schon auf den ersten Metern bin ich ein wenig von der Fahrrad- Verkehrsführung Hamburgs angetan. Vernünftige Fahrradspuren und einige Fahrradstraßen, an denen ich entlang komme. Hier haben die Räder Vorrang. Das mag nicht stellvertretend für die ganze Stadt sein, aber schon erschreckend, dass in Bremerhaven noch nicht einmal ein Radweg auf der Kennedybrücke für nötig gehalten wird, als diese saniert wurde. Auf das die LKW weiterhin dreispurig am Klimahaus vorbei donnern können 😖
Schon bald finde ich mich im Hamburger Wald wieder. Auf wirklich verschlungenen Pfaden geht es durch das Gehölz. Da der Hanseaten Weg primär ein Wanderweg ist, geht es auch schon mal eine Treppe rauf und runter oder auf einen Meter breiten Trampelpfad über Stock, Stein und Wurzeln. Aber es macht wirklich Spaß, durch den Wald zu brausen. 
Auf dem mich begleitenden Flüsschen sind heute etliche Kanus unterwegs. Ein Mann in den 50ern paddelt ganz gelassen. Auf mich macht er den Eindruck, als wenn er zu Hause nicht viel zu lachen hat und dies der einzige Ort ist, an dem er noch Captain sein darf. Ich freu mich für ihn. 
Ein anderer bepackt gerade sein Kanu mit 2 Jever Kisten. Ach, muss das herrlich sein... sich auf dem Fluss treiben lassen, das sanfte Plätschern des Wassers im Ohr und ein leichtes Gluckern in der Kehle vom wohl leckersten Bier der Welt. 
Plötzlich treffe ich auf eine Gruppe mit mindestens 20 Dackeln. Langsam rolle ich an ihnen vorbei. Meine Eltern würden es mir nie verzeihen, eines dieser niedlichen Geschöpfe angefahren zu haben. Einer der Dackel, ich vermute der Anführer des Rudels, rennt mir bellend einige Meter hinterher. Bin mir gar nicht sicher, ob der meine Wade überhaupt erreichen könnte, trete aber dennoch beherzt 2-3mal in die Pedale.
Nach gut über 40 km meine ich, ein Päuschen verdient zu haben. Ich setze mich auf die Bank und packe meine neue Errungenschaft aus. Einen kleinen Gaskocher. Ich fülle ihn mit ein wenig Wasser, drehe das Gas auf und meine, ihn zu entzünden. Nach drei Minuten wundere ich mich, dass der Kocher zwar nette Geräusche macht, das Wasser aber immer noch nicht kocht. Da stelle ich doch glatt fest, dass ich den Kocher nicht richtig gezündet habe. So kann man die Gaskartusche auch leer bekommen. Das kommt davon, wenn in Irland immer der Fahrrad Partner den Kaffee gekocht hat. Nach nun aber erfolgreicher Zündung, kocht das Wasser in weniger als zwei Minuten und ich kann mir meinen Räuber Kaffee aufgießen. Dazu die Schokolade, die mir meine Nachbarin heute morgen noch gespendet ab 😋
Ich komme an einem sehr schön zum Wohnhaus umfunktionierten alten Bahnhof vorbei. Da wird mir bewusst, dass die Strecke, auf welcher ich gerade rolle, nicht ganz zufällig fast schnurgerade ist. Ich bin auf einer ehemaligen Bahntrasse unterwegs. Auch nett. 
in Bad Oldesloe freue ich mich über einen DM in der Fußgängerzone. Würdige ich diese elenden Drogeriemärkte sonst keines Blickes, sind sie mir auf Radtouren stets willkommen. Hier gibt es vieles, was das Radlerherz auf Reisen begehrt. Schokoriegel, Wasser, Zahnpasta, Duschgel, Zahnseide, Desinfektionstücher und so weiter. Heute kaufe ich aus gegebenem Anlass Sonnencreme. 
Hinter Bad Oldesloe wird die Strecke wieder ein wenig kurviger. Plötzlich kommt ein Radler auf schmalen Pfad entgegen und wechselt doch tatsächlich von seiner rechten auf die linke Seite. Ich weiche verwirrt und in der Zeit Sekunde aus und wundere mich, wieso er nicht rechts geblieben ist. Dann fällt mir auf, dass er eine HSV Kappe getragen hat. Er ist es scheinbar gewohnt, auf der falschen Seite zu sein.
Das Ortsschild Lübecks passierend, wird mir nach und nach ein wenig kühl. Es scheint zwar die Sonne, doch der Fahrtwind ist frisch. Ich hole meine erprobte Windweste aus der Tasche und stelle fest, dass die mir vor knapp einem Jahr auf Korsika wesentlich besser gepasst hat. Da wären wir wieder bei denen vor einigen Wochen erwähnten 13 Kilo zuviel. Ich werde auf jeden Fall das Westen Material auf seine Reißfestigkeit prüfen können. In Lübeck werden die Wege wieder ein wenig belebter und mir graut schon davor, durch die Innenstadt zu fahren. Mit der Windweste sehe ich aus wie eine Gummi Wurst aus dem Kühlregal auf zwei Rädern. Mann, ist das peinlich.
Ich möchte nicht verschweigen, dass ich heute eine Ampel in Lübeck bei Rot passiert habe. Weder von rechts noch von links war weit und breit Verkehr zu sehen, da bin ich einfach rüber gefahren, obwohl auf der anderen Seite eine Rentnerin samt Rad vorschriftsmäßig gewartet hat. So gleich weist sie mich auf meinen Fauxpas hin und zeigt wild gestikulierend und aufgeregt, dass hinter mir ein Polizeigebäude ist. Ich bin nicht sicher, ob sie mich warnen oder verpfeifen will. Ihrem Gesichtsausdruck nach eher letzteres. Na, da will ich mal hoffen dass die Sheriffs heute besseres zu tun haben als einen radfahrenden Verkehrssünder mit Blaulicht hinterherzujagen.
In Lübeck geht es idyllisch an der Trave entlang. Viele Menschen genießen die Abendsonne und haben sich auf die Wiesen und an das Ufer gesetzt. Mir wird dennoch laufend kälter und ich ziehe meine Jacke an.
Der Herrentunnel markiert das baldige Ende meiner Tour. Der Tunnel führt unter die Trave hindurch, ist aber nicht mit dem Rad befahrbar. An beiden Tunnelenden fahren Busse, die Fußgänger und Radfahrer umsonst rüber bringen. Leider verpasse ich den 20 Uhr Bus ganz knapp und muss 15 Minuten warten . So langsam läuft mir die Zeit davon, denn gleich ist Sonnenuntergang . Auf der anderen Seite der Trave sind es auf direktem Weg noch ca. 7 Kilometer bis zum Campingplatz in Travemünde.
Ich komme knapp vor ein Buch der Dunkelheit an, baue mein Zelt in Windeseile auf und gehe zum Italiener, der sich auf dem Campingplatz Gelände befindet. Mir gelüstet nach Pasta und in weniger als 60 Sekunden habe ich mich für eine Gericht entschieden. Einfach lecker nach solch einem Kräfte zehrenden Tag . Danach ab in die Dusche und die Heia...